Warum der Kontext für UX Copy alles verändert und wie du den richtigen Ton findest.
Kurzer Recap aus Teil 1: Wir haben analysiert, warum Duolingos “Bist du nur zurückgekommen, um mich zu ghosten?”-Notification so gut funktioniert. Unser Fazit: Es spielt mit Selbstironie statt Schuld, es gibt eine konsistente Produkt Persönlichkeit, es ist ehrlich und wird perfekt getimed ausgespielt. Hier geht es zum Artikel “Im Ernst jetzt?” – Duolingos UX Writing | Teil 1: Die Anatomie einer funktionierenden Notification.
- Warum derselbe Ton hier motiviert – und dort manipuliert
- Für die Praxis: Ein Framework für ethisches Engagement
- Was wir als Designer*innen und Entwickler*innen daraus lernen können
- Praktische Anwendung: So entwickelst du den richtigen Ton
- Was Duolingo uns noch lehrt: Die Power von Microcopy
- Fazit: UX Writing ist UX Design
Warum derselbe Ton hier motiviert – und dort manipuliert
Hier kommen wir zur entscheidenden Frage: Warum funktioniert dieser Ton bei Duolingo, würde aber bei Instagram oder TikTok toxisch wirken?

Duolingo ist ein Lerntool
- Es geht um ein intrinsisches Ziel: ein Beispiel für einen „pleasurable troublemaker” nach Prof. Matthias Laschke, eine kleine, wohlwollende Störung, die mich gezielt dazu anregt, dranzubleiben und das eigene Verhalten reflektiert zu steuern (vgl auch Deci & Ryan, 1985)
- Generiert Mehrwert: Die App bringt mich in meinen persönlichen Zielen weiter
- Alignment zum User Goal: Die App will dasselbe wie ich – Fortschritt
- Endlichkeit: Es gibt ein Ziel, kein endloses Engagement
Zum Vergleich: Social Media als Attention Trap
- Extrinsisches Ziel: Die App will meine Zeit, ich will z.B. Zerstreuung
- Fraglicher Mehrwert: Mehr Scrollen ≠ mehr Lebensqualität
- Misalignment: Die App will meine Aufmerksamkeit um diese zu verkaufen
- Endlosigkeit: Es gibt nie genug, nie ein “Fertig”
Die ethische Grenze liegt im Purpose. Dieselben UX-Techniken können motivierend oder manipulativ sein – je nachdem, ob sie mir helfen, meine Ziele zu erreichen, oder mich von meinen Zielen ablenken. (Cialdini 2008; Fogg, 2003). Dabei liefert die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1985) eine wichtige psychologische Grundlage: Sie hebt hervor, dass Menschen besonders dann motiviert und zufrieden sind, wenn ihr Bedürfnis nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit gestärkt wird. Dies zeigt, warum ehrliche, transparente und auf das Wohl der Nutzer*innen abzielende Gestaltung ethisch und wirksam ist.
Für die Praxis: Ein Framework für ethisches Engagement
Wir haben einen einfachen und alltagstauglichen Fragentest entwickelt, um zu prüfen, ob eine Engagement-Strategie ethisch vertretbar ist.
Die 3-Fragen-Methode:
- Hilft es dem User, sein eigenes Ziel zu erreichen?
- Ja – bei Duolingo (Sprache lernen)
- Nein – bei endlosem Social Media (Doom)Scrolling
- Würde es auch funktionieren, wenn wir transparent kommunizieren, was wir tun?
- Ja: “Wir erinnern dich, weil regelmäßiges Üben beim Lernen hilft”
- Nein: “Wir zeigen dir emotionale Inhalte, damit du länger bleibst”
- Würden wir wollen, dass unsere eigenen Kinder/Partner/Freunde so angesprochen werden?
Wenn du alle drei mit “Ja” beantworten kannst, bist du wahrscheinlich auf der richtigen Seite.
Diese drei Fragen sind kein Zufall, sondern orientieren sich an etablierten Frameworks aus der UX‑Ethik wie Sharon Lindbergs Design Ethics at Work (Forschungsprojekt zur ethischen Abwägung im Design) und an Ethical-Persuasion-Modellen (z.B. TARES Test von Baker & Martinson, 2001, als gedankliches Konstrukt, das zeigt, wie Transparenz und Nutzerwohl in Persuasive UX zu prüfen sind).
Unser Ziel war es, diese theoretischen Prinzipien in eine alltagstaugliche Prüffrage-Logik zu übersetzen, die Produktteams direkt anwenden können.
Was wir als Designer*innen und Entwickler*innen daraus lernen können
1. Tonalität ist strategisch, nicht dekorativ
Viele Teams behandeln UX Writing als Nachgedanke: “Schreib noch schnell einen Text für den Button.” Aber Tonalität ist Teil der User Experience – manchmal sogar der entscheidende Teil.
Praktisch umgesetzt:
- Definiert die Persönlichkeit eures Produkts, bevor ihr den ersten Text schreibt
- Erstellt einen Tone-of-Voice-Guide mit konkreten Dos and Don’ts
- Testet verschiedene Tonalitäten mit echten Usern – was sich intern witzig anfühlt, kann extern nervig wirken
2. Kenne den Kontext deines Produkts
Der Ton funktioniert bei Duolingo. Bei einer Banking-App? Katastrophe. Bei einer Meditations-App? Verfehlt das Ziel komplett.
Frag dich:
- Was ist der emotionale Zustand der User in diesem Moment?
- Was ist das übergeordnete Ziel – meines Produkts und meiner User?
- Welche Beziehung soll mein Produkt zu den Usern haben?
3. Ehrlichkeit > Tricks
User sind nicht dumm. Sie merken, wenn du versuchst, sie zu manipulieren. Duolingos Direktheit funktioniert gerade deshalb, weil sie nicht verschleiert wird.
Hier ein paar Alternativen zu Deceptive Patterns:
- Statt “Nur noch 3 auf Lager!” → “Andere schauen sich das gerade auch an”
- Statt “Deine Freunde vermissen dich!” → “Du hast 3 neue Nachrichten”
- Statt “Letzte Chance!” → “Das Angebot läuft ab am dd/mm/yy”
4. Humanisierung braucht Konsistenz
Eine witzige Notification ist nett. Eine konsistente Persönlichkeit über alle Touchpoints hinweg ist ein Beispiel für gutes UX Design.
Checkliste für dein Produkt:
- Klingt eure App in Onboarding, Notifications und Error Messages gleich?
- Würden User die “Stimme” eures Produkts wiedererkennen?
- Passt die Tonalität zu eurer Brand – oder wirkt sie aufgesetzt?
- Welche Rolle soll dein Produkt einnehmen?
Praktische Anwendung: So entwickelst du den richtigen Ton
Schritt 1: User Research mit Fokus auf Sprache
Verstehe, wie deine User denken und reden:
- Wie reden deine User über dein Produkt?
- Welche Metaphern nutzen sie?
- Welche Beziehung wollen deine User zum Produkt?
Schritt 2: Definiere deine Produkt-Persönlichkeit
Stell dir dein Produkt als Person vor:
- Welchen Job hat er/sie?
- Wie würde er/sie im echten Leben reden?
- Was würde er/sie NIE sagen?
Schritt 3: Teste in extremen Situationen
Ein guter Tonfall zeigt sich in Krisensituationen:
- Wie redet deine App, wenn etwas schiefgeht?
- Wie kommuniziert sie Fehler?
- Wie spricht sie User an, die lange weg waren?
Schritt 4: Iteriere mit echtem Feedback
Keine Tonalität überlebt den ersten User-Kontakt unverändert. Teste, wir lernen darausund passen dementsprechend an
Was Duolingo uns noch lehrt: Die Power von Microcopy
Diese eine Notification ist vielleicht 15 Wörter lang. Aber sie zeigt, was Microcopy kann, wenn es gut gemacht ist:
- Re-Engagement ohne Druck
- Markenbildung durch Konsistenz
- Emotionale Verbindung durch Humor
- Verhaltensänderung durch den richtigen Ton
Die besten UX-Texte sind die, die man seinen Freunden zeigt und sagt: “Guck mal, wie witzig!”
Fazit: UX Writing ist UX Design
Duolingos Eule ist kein Marketing-Gag. Sie ist eine sorgfältig entwickelte Persönlichkeit mit positivem Effekt auf die User Experience. Jede Notification, jeder Button-Text, jede Fehlermeldung wurde so konzipiert, dass sie:
- Zur Marke Duolingo passt
- Nutzer*innen versteht
- Ehrlich kommuniziert
- Zum Handeln motiviert – aber ohne zu manipulieren
Das ist kein Zufall, sondern eine Strategie.
Und am Ende ist gutes UX Writing wie gute UX insgesamt: unsichtbar, wenn es funktioniert – und unvergesslich, wenn es wirkt.
Dies ist Teil 2 der zweiteiligen Serie über UX Writing und Design-Ethik. 👉 Teil 1 gibt es hier zu lesen: Die Anatomie einer perfekten Notification
Bei BIRD UX entwickeln wir seit 2011 die strategische Grundlage für solche Nuancen: Wir helfen unseren Kund*innen konsistente UX-Strategien zu entwickeln, in denen Content und Text nicht nachträglich aufgesetzt werden, sondern von Anfang an als basaler Bestandteil des User Interfaces mitgedacht sind. Denn Tonalität ist keine Frage des Copywritings – sondern der Produktstrategie. Klingt, als könnten wir Dir bei Deinen Herausforderungen weiterhelfen? Melde Dich gerne!
Quellen
- Baker, S., & Martinson, D. L. (2001). The TARES Test: Five Principles for Ethical Persuasion. Journal of Mass Media Ethics, 16(2–3), 148–175. https://doi.org/10.1080/08900523.2001.9679610
- Cialdini, R. B. (2008). Influence (5. Aufl.). Pearson
- Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1985). Intrinsic motivation and self-determination in human behavior. New York, NY: Plenum
- Fogg, B. J. (2003). Persuasive technology: using computers to change what we think and do. Morgan Kaufmann Publishers
- Hassenzahl, M., & Laschke, M. (2015). Pleasurable Troublemakers. In S. P. Walz & S. Deterding (Eds.), The Gameful World (pp. 167–196). The MIT Press. https://doi.org/10.7551/mitpress/9788.003.0011
- Lindberg, S. (2024). Design Ethics at Work. https://urn.kb.se/resolve?urn=urn:nbn:se:su:diva-233188
Character aus Artikel Cover Bild von https://duolingopress.lingoapp.com/




